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Jinn-Glaube und damit verknüpfte Geschlechterrollen und -bilder im vormodernen Islam

Paintings from the late 14th and early 15th century depicting the hybrid jinn as demonic creatures (Topkapi Palace Museum Library, Istanbul)
Paintings from the late 14th and early 15th century depicting the hybrid jinn as demonic creatures (Topkapi Palace Museum Library, Istanbul). Middle East Eye; "Jinn: Who are the supernatural beings of Arabian and Islamic tradition?," by Indlieb F. Saber, posted September 20, 2022

Abstract

Dieser Beitrag untersucht den Glaube an die jinn in der vormodernen islamischen Welt und die damit verbundenen Geschlechterrollen und -bilder. Der Glaube an die jinn war bereits vor der Entstehung des Islams weit verbreitet und wurde an die islamische Kultur angepasst. Jinn werden als unsichtbare Wesen beschrieben und können den Alltag der Menschen beeinflussen. Dieser Artikel untersucht ihre komplexen Beziehungen zu Menschen, insbesondere im Bereich der Sexualität und der Ehe. Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern diese Verbindungen zwischen jinn und Menschen mit Macht, Besitzansprüchen und Gewalt in Verbindung stehen. Auch die Projektionen von menschlichen Geschlechterrollen und Moralvorstellungen auf die Welt der jinn werden näher betrachtet. Der Beitrag schließt mit der Feststellung, dass die Beziehung zwischen Menschen und jinn ein faszinierendes, aber auch problematisches Spiegelbild gesellschaftlicher Normen und Ideologien darstellt. Eine tiefere Analyse zusätzlicher literarischer Quellen, darunter Dichtungen und Folklore, ist notwendig, um ein vollständigeres Verständnis der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der komplexen Geschlechterverhältnisse in dieser Thematik zu entwickeln.

Keywords: Jinn, Vormoderner Islam, Geschlechterrollen, Geschlechterbilder, Sexualität, Heteronormativität, Spiritualität, Magie, Projektionen, Moralvorstellungen, Macht und Kontrolle, Misogynie, Beziehungen zwischen Menschen und jinn, Dschinn, Koran und jinn

Jinn-Glaube in der arabischen Welt

Der Glaube an die Existenz der jinn1 ist in der arabischen Welt2 weit verbreitet und älter als der Islam. Jinn waren im gemeinsamen kulturellen und Alltagsleben omnipräsent.3 Der Religionswissenschaftler Pierre Lory hält fest, dass der Glaube an die jinn mit dem Islam weiter fortbestand, jedoch an eine islamische Kultur und die geläufigen muslimischen Vorstellungen angepasst wurde.4

In der Literatur lassen sich viele Hinweise darauf finden, dass Menschen die jinn fürchteten oder ihnen zumindest skeptisch gegenüberstanden. Dennoch gab es Gründe, sich mit ihnen zu verbünden, zum Beispiel, um von ihnen Zugang zu spirituellem oder magischem Wissen zu erhalten oder in der Kunst der Alchemie unterwiesen zu werden. Darüber hinaus waren es insbesondere Liebesgefühle oder sexuelle Begierde, die Menschen und jinn miteinander sexuelle Verhältnisse oder gar Eheverbindungen eingehen ließen.5

Die Quellenlage und Forschung zum Glauben an die jinn in der Vormoderne ist relativ unzureichend. Daher ist zu bedenken, dass die folgenden Argumente auf keinem breiten Fundament basieren. Sie sollen jedoch Anregung bieten, sich weiter mit dem Thema zu befassen und Antworten auf gesellschaftsrelevante Fragen zu suchen.

Die jinn: Wer oder was sind sie? – Ein Überblick

Die jinn sind laut Koran von Gott aus einer rauchlosen Flamme geschaffene Geschöpfe, die für die Augen der Menschen in ihrer normalen, ursprünglichen Form unsichtbar sind.6 Es liegt nahe, die Wortherkunft aus dem Arabischen aus der Wurzel „j-n-n“ mit der Bedeutung „bedecken“ herzuleiten, weshalb jinn als verdeckte und verborgene Wesen verstanden werden.7 Sie können jedoch verschiedene Erscheinungsformen annehmen und sich dadurch zu erkennen geben.8 Die jinn leben laut Koran in einer Parallelwelt, also in einer Art Zwischenwelt zwischen Menschen und Gott. Dabei seien jinn weder menschlich noch unsterblich.9 Dennoch teilen sie sich mit den Menschen den Lebensraum auf der Welt und können das Leben und den Alltag dieser beeinflussen, indem sie sie zum Beispiel manipulieren, entführen oder krank machen. Dies geschehe laut Lory in einer Zwischendimension zwischen Traum und wachem Bewusstsein.10 Da sie laut Koran aus rauchlosem Feuer geschaffen wurden, wird jinn außerdem die Fähigkeit zugeschrieben, sich schnell fortzubewegen, zu fliegen, in die Körper von Menschen oder Tieren einzudringen, oder sogar die Gestalt eines Menschen anzunehmen.11

Jinn in verschiedenen Erscheinungsformen
Jinn im Kitab al-Bulhan12

Jinn seien nicht zwangsweise boshafte Geschöpfe, sondern werden als intelligente Wesen angesehen, die mehr verstünden als Menschen, weil sie als Geschöpfe der Zwischenwelt zu mehr Wissen Zugang hätten. Daher, so fasst Lory es zusammen, stelle es für manche Menschen eine Verlockung dar, sich mit jinn zu verbünden, mit ihrer Hilfe Magie anzuwenden oder Zugriff auf ihnen selbst verborgenes Wissen zu erlangen.13

Laut dem Islamwissenschaftler Tobias Nünlist, welcher sich auf Ausführungen der Lauteren Brüder (Ikhwan al-Safaʿ)14 bezieht, gebe es allerdings eine natürliche Feindschaft zwischen jinn und Menschen, die auf einer „Anciennität“15 beruhe. Darüber hinaus ließe sich eine Feindschaft durch eine „gegensätzliche natürliche Veranlagung“ begründen, die sich nicht zuletzt aus den verschiedenen Elementen, aus welchen sie bestünden, erklären ließe.16 So seien jinn, wie bereits beschrieben, aus Feuer geschaffen, Menschen jedoch aus Lehm.17

Eheschließung zwischen jinn und Menschen

In Abhandlungen über jinn werden neben den Ausführungen zum angespannten bis feindseligen Verhältnis zwischen Menschen und jinn zumeist auch solche über sexuelle oder Liebesverbindungen bis hin zu Eheschließungen niedergeschrieben. Im Glauben der Menschen, so Lory, waren die jinn im sozialen und damit auch im sexuellen Lebensbereich der Menschen omnipräsent.18 Es wurde von manchen islamischen Gelehrten über die Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten und insbesondere die Legitimität von Verbindungen zwischen Menschen und jinn diskutiert. Schon der Koran gibt in Sure 17:64 den Hinweis darauf, dass eine Verbindung möglich sei.19

Ein bedeutsamer, wenn nicht gar der bedeutsamste Grund für eine Verbindung zwischen Menschen und jinn sei die Liebe.20 Allerdings handelt es sich dabei um eine von Ungleichheiten geprägte Form von Verbindung, die sich beispielsweise durch Besitzanspruch oder Machtausübung des jinnī (maskuline Form) oder der jinniyya (feminine Form) gegenüber dem Menschen ausdrücken. In den meisten Fällen sei der Mensch vom jinnī oder der jinniyya besessen.21 Folglich unterliege der Mensch der Kontrolle des jinnī oder der jinniyya, oder müsse sich selbst durch die Einswerdung mit ihm:ihr für die Beziehung aufgeben. Das Verhältnis des Menschen mit einem jinnī oder einer jinniyya führe dazu, dass sich dieser aus der menschlichen Paarbeziehung zurückziehe, entführt werde, oder anderweitig verschwinde.22 Die Verbindung basiere hauptsächlich auf Leidenschaft und Begierde. Komme es zum Eheschluss, so werde diese laut dem islamischen Gelehrten Badr al-Din al-Shibli aus Furcht eingegangen. Daher könne der in den religiösen Schriften als legitim erklärte Zweck der Ehe, sich beieinander sicher zu fühlen, nicht erfüllt werden.23 Im klassischen Islam wurde in zahlreichen Büchern vor den Gefahren leidenschaftlicher und exzessiver Liebe gewarnt.24 Dem islamischen Theologen und Mediziner Luqman Jimoh zufolge müsse eine Liebesaffäre zwischen Mensch und jinnī:jinniyya aber nicht zwangsweise auf Machtausübung, Besitzergreifung, Vergewaltigung, oder Androhung von Gewalt basieren, sondern könne durchaus auf einem Konsens zwischen beiden Parteien beruhen.25

Die Debatte um die Legitimität ehelicher Verbindungen zwischen jinn und Menschen fand insbesondere in der islamischen Jurisprudenz (fiqh) statt, und fokussierte sich stark auf die (Un-)Möglichkeit, Nachkommen zu zeugen. Eine klare Einigung gab es nicht. An dieser Stelle soll nur so viel gesagt sein: Zumindest in Bezug auf al-Shiblis Ausführungen müsse die schiere Möglichkeit sowohl der Ehe als auch der sexuellen Verbindung zwischen den Gattungen schon allein deshalb gegeben sein, weil die Scharia auf diese eingeht. Gäbe es diese Möglichkeit nicht, bestünde kein Bedarf, sie in der Scharia zu erwähnen.26

Sexualität zwischen jinn und Menschen und die Möglichkeit der gemeinsamen Fortpflanzung

Die beiden Islamwissenschaftler:innen Edward Badeen und Birgit Krawietz schlussfolgern aus der Arbeit al-Shiblis, dass jinn individuelle und real existierende Körper unterschiedlicher Gestalt besäßen, die essen, trinken und Sex hätten.27

In Bezug auf die Vorstellungen körperlicher Attraktivität weiblicher jinniyyāt wird eine Dichotomie deutlich: Lory führt aus, dass sie entweder als „ugly old women with hanging breasts“ bezeichnet werden, die Männer verrückt machten oder entführten, oder andererseits als „beautiful, fascinating young ladies“, zu der sich Männer stark hingezogen fühlten und ihrer Schönheit erlägen.28 Hieran kann bereits eine misogyne Tendenz abgelesen werden, in der Frauen als bedrohlich und/oder verführerisch wahrgenommen werden, die auf entweder die eine oder die andere Weise Kontrolle über Männer erlangen und ihnen schaden wollen.

Genauere Ausführungen zur Erscheinung von männlichen jinn in Bezug auf ihre Attraktivität wurden nicht gefunden. Allerdings wird beschrieben, dass sich – wie schon oben erwähnt – jinn in Menschenfrauen verlieben können und sie gegebenenfalls im Traum aufsuchten und mit ihnen Sex hätten, während die Frauen schlafen.29 An dieser Stelle könnte die Frage aufgeworfen werden, ob es sich hier um eine Projektion männlicher (Macht-)Fantasien auf die jinn handelt, Frauen im Schlaf aufzusuchen und ohne ihre konkrete Einwilligung Geschlechtsverkehr mit ihnen zu haben (sie also zu vergewaltigen). Denkbar sein könnten darüber hinaus auch Vergewaltigungsfantasien seitens der Frauen.

Die gängigste Vorstellung über den Geschlechtsverkehr zwischen Menschen und jinn beruht auf der Aussage eines ḥadīth,30 dass sich der Teufel31 bzw. der jinnī auf den Penis bzw. den Harnausgang des Mannes setze, sollte das Paar vor dem Vollzug des Verkehrs nicht die Worte „im Namen Allahs“ (bi-smi llāhi) ausgesprochen haben. Es handele sich also hierbei um eine ménage-à-trois zwischen zwei Menschen und einem jinnī, der ebenfalls (ohne deren Zustimmung) mit der Frau schläft. Darüber hinaus sei sogar ein Vierer zwischen Mann, Frau, jinnī und jinniyya vorstellbar, zumindest kommt dies in Erzählungen über die im heutigen Marokko berüchtigte jinniyya ʿAisha Qandīsha vor.32 Dabei wird jedoch an einem heteronormativen Geschlechterbild festgehalten, immer verkehrt der jinnī mit der Frau und die jinniyya mit dem Mann.

Der Teufel oder jinnī wohne dem Geschlechtsakt ebenfalls bei, wenn die Frau menstruiert. Wird sie daraufhin schwanger und gebärt einen Sohn, so würde dieser effeminiert sein, also verweiblicht und verweichlicht.33 Sie werden abwertend als Zwitter, bzw. Hermaphroditen (mukhannath) bezeichnet, den beiden binären Geschlechtern nicht eindeutig zuordbar, und damit irritierend. Dies ist gegenüber Menschen, die sich weder dem weiblichen noch männlichen Geschlecht zuordnen und/oder sich nicht entsprechend den klassischen Geschlechterrollen verhalten (wollen), diskriminierend und stigmatisierend. Diese Annahmen könnten außerdem erneut Hinweise auf misogyne Einstellungen der Menschen geben, aufgrund derer das Weibliche abgewertet und sogar dämonisiert wird. Denn durch die Verbindung einer Frau mit einem jinnī würden Kinder geboren, die nicht den geläufigen Vorstellungen von Männlichkeit entsprechen. Von der gesellschaftlichen Stigmatisierung sind folglich sowohl Mutter als auch Kind betroffen.

Im Allgemeinen sei die erotische Verbindung zwischen jinn und Menschen eher von Angst und Gewalt geprägt, statt von gegenseitigem Vergnügen.34 Frauen würden von jinn u.a. im Schlaf vergewaltigt, Männer und Frauen unter Gewaltandrohungen in Ehe oder Affäre gezwungen, entführt oder in den Wahnsinn getrieben.

Dem gegenüber stehen allerdings Aussagen – insbesondere von den islamischen Gelehrten al-Shibli und Jalal al-Din al-Suyuti – laut denen Frauen behaupten, dass sie beim Geschlechtsverkehr mit einem jinnī die gleiche Art eines Orgasmus spürten, wie mit ihren Ehemännern.35 Dies sei ein Hinweis darauf, dass der Geschlechtsverkehr durchaus konsensuell stattfinden und die Frau dabei Vergnügen empfinden könne. Es sei den Gelehrten dabei allerdings nicht vollkommen klar, ob es sich in diesen Fällen wirklich um vollzogenen Geschlechtsverkehr handele, oder um bloße Halluzinationen der Frauen.

Zusammenfassend überwiegt die Ablehnung der Verbindung und Zeugung von Nachkommenschaft zwischen Menschen und jinn:iyyāt von Seiten der Gelehrten. Daher könnte man annehmen, dass die Ablehnung wahrscheinlich auch in der breiten Bevölkerung größer war als die Akzeptanz.

Übertragung der menschlichen Moralvorstellungen und Geschlechterbilder auf die Welt der jinn

Es wurden bereits Hinweise darauf gegeben, dass die Vorstellungen über jinn und ihre Geschlechterrollen und Sexualität einige Projektionen der menschlichen Geschlechterbilder und Moralvorstellungen auf die Welt der jinn enthalten können.

Laut Koran, z.B. Sure 30:21, wurde die Frau von Gott aus dem Mann geschaffen, um ihm eine Partnerin zu sein, in der er Ruhe finden kann: „Und zu seinen Zeichen gehört es, daß er euch aus euch selber Gattinnen geschaffen hat, damit ihr bei ihnen ruhet. Und er hat bewirkt, dass ihr einander in Liebe und Erbarmen zugetan seid. […]“36 Die Frau wird in diesem Sinne zum Besitzobjekt des Mannes und führt die klassische Care-Arbeit aus, indem sie ihren Mann umsorgt und ihm Trost und Ruhe spendet. Dass der Mann umgekehrt das Gleiche für die Frau tun solle, wird nicht erwähnt. Jedoch kann aus den Vorstellungen über jinniyya geschlussfolgert werden, dass solche Frauen, die aus ihrer fürsorglichen Rolle fallen oder Macht besitzen, zum Beispiel aufgrund von besonderer Schönheit und damit verbundenen Verführungskünsten oder anderen Formen von Überlegenheit oder Macht, von Männern gefürchtet und in vielen Fällen dämonisiert werden. Das wird daran deutlich, dass jinniyyāt hauptsächlich als Wesen dargestellt werden, die Männern schaden wollen.

Aus den Schilderungen von Begegnungen zwischen Männern und jinniyyāt geht hervor, dass sich Männer zumeist in einer passiven Opferrolle befänden. Sie würden entweder verführt, entführt, oder in den Wahnsinn getrieben.37 Sie seien unschuldig und trügen keinerlei Verantwortung, allein die jinniyya könne zur Rechenschaft gezogen werden. Dahingegen stehen Frauen in der Verantwortung, sollten sie einen Zwischenfall mit einem jinnī erleben, denn sie werden von jungen Jahren an vor den jinn gewarnt. Sie sollen sich vor ihnen hüten, insbesondere davor, von ihnen im Schlaf überfallen zu werden. Daher seien entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Sollte dennoch etwas passieren, so trägt die Frau selbst die Schuld, denn sie habe nicht genug Acht gegeben.38 Sie sind, anders als die Männer, nicht bloß Opfer der Übergriffe.39 Dies erinnert stark an die sogenannte Täter-Opfer-Umkehr in der heutigen Zeit, die häufig in Fällen von Übergriffen gegenüber Frauen angewandt wird: sei es, dass sich Frauen unangemessen kleiden, Alkohol trinken, falsche Signale senden, nachts allein vor die Tür gehen oder ähnliches.40 So scheint es, dass die Täter-Opfer-Umkehr, wie wir sie heute kennen, schon in der Vormoderne in gewisser Art und Weise ihren Platz im gesellschaftlichen Umgang mit Übergriffen auf Frauen hatte.41

Der Aspekt der Verantwortung betrifft auch die Schwangerschaft. Eine unerklärliche Schwangerschaft könne zum einen dadurch erklärt werden, dass ein jinnī der Vater sei und das Kind gezeugt habe. Dies wird allerdings gesellschaftlich nicht oder nur selten akzeptiert, vielmehr wird der Frau Unzucht vorgeworfen, und folglich wird sie und ebenfalls ihr Kind gesellschaftlich stigmatisiert. So kommen Badeen und Krawietz zu dem Schluss, dass

[u]nerklärliche Schwangerschaften – so bereits der frühe Rechtsschulgründer Mālik (gest. 795) – […] nicht mit Verweis auf ´Geistergatten´ legitimiert werden [sollten]. Die soziale Verträglichkeit von Dschinnen-gestützten Erklärungsmustern scheint hier ihre gesellschaftliche Grenze zu haben.42

Von den Überlegungen und Äußerungen Maliks als einer der vier berühmtesten medinensischen Rechtsgelehrten kann somit eine große gesellschaftliche Relevanz des Themas abgeleitet werden.

Doch ebenfalls in Bezug auf Unzucht wird der Mann im Gegensatz zur Frau scheinbar aus der Verantwortung genommen: Sollte ein Ehemann beispielsweise verschwinden und nach geraumer Zeit wieder auftauchen, so sei es eine durchaus gesellschaftlich akzeptierte Begründung, von einer jinniyya entführt worden zu sein und sich nun wieder befreit zu haben. Er kann seine sogenannten „ehelichen Pflichten“ ohne zu befürchtende Konsequenzen wieder aufnehmen:

[…] denn vermißte Ehegatten tauchen zuweilen wieder auf und treten in ihre alten ehelichen Pflichten wieder ein. Sie können sich darauf berufen, gekidnappt und von einer Dschinnenfrau in ein Eheverhältnis gezwungen worden zu sein, wovon die Überlieferungen beredtes Zeugnis ablegen.43

Was in der Zwischenzeit passierte, ob er zum Beispiel ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte, wird offenbar nicht gefragt. So entstehen für Männer Freiräume, während die Frauen beispielsweise auf sich alleingestellt bleiben und die Kinder ohne die Unterstützung des Vaters großziehen.

Neben den Geschlechterbildern und -rollen und der damit verbundenen scheinbar unterschiedlich großen Verantwortung für das eigene Handeln werden auch die moralischen Vorstellungen um Sexualität bei Betrachtung der Mensch-jinn-Interaktion im erotischen oder im Liebeskontext sichtbar. Hier wird Heteronormativität ebenfalls für die Welt der jinn angenommen bzw. vorausgesetzt. So hält Nünlist aus den Aufzeichnungen al-Shiblis fest, dass „ein Mann von den Menschen eine jinniyya heiraten kann, aber auch Beziehungen zwischen einem männlichen Dämon und einer menschlichen Frau möglich seien“.44 Davon, dass jinn Männer und jinniyyāt Frauen heiraten oder eine sexuelle Verbindung eingehen können, scheint nirgends die Rede zu sein.

Einzig durch die Verbindung zwischen jinn und Menschen können Nachkommen entstehen, die der binären Ordnung widersprechen. Die negative Bezeichnung „verweichlicht“ lässt auf eine ablehnende und stigmatisierende Haltung der breiten Gesellschaft gegenüber Menschen, die der binären Ordnung nicht entsprechen können oder wollen, schließen. Ob allerdings eine Diskriminierung von inter-, trans oder nicht-binären Personen vorlag, wie man sie heute verstehen kann, müsste genauer untersucht werden. Es ist zu klären, ob eine Übertragung an dieser Stelle sinnvoll ist, da die Konzepte von Geschlechtsidentitäten, wie sie heute vorliegen, in der Vormoderne noch nicht bekannt waren.

Jinn in verschiedenen Erscheinungsformen
Jinn im Kitab al-Bulhan45

Es bleibt zu erwähnen, dass die vorangegangenen Überlegungen auf ihre Richtigkeit in Bezug auf die Vormoderne zu überprüfen sind. Vorstellungen über Geschlechterrollen und Sexualität waren seit jeher in ständigem Wandel und es ist durchaus möglich, dass die hier gezogenen Verbindungen nicht auf die vormoderne Zeit zutreffen. Es bedürfte einer detaillierten Auseinandersetzung mit normativen Quellen und ihren einzelnen Autoren, sowie Darstellungen in Folklore, Dichtung und weiteren relevanten Textgattungen, um eine validere Aussage treffen zu können.

Schlussfolgerung aus der Analyse normativer Texte über Beziehungen zu jinn und Menschen

Es kann auf Grundlage der Autoren al-Shibli und Ibn Taymiyya, auf deren Ausführungen sich die meisten Sekundärquellen stützen, festgehalten werden, dass, obwohl die Verbindungen zu jinn unter den Gelehrten in den meisten Fällen auf starke Ablehnung stießen, sie dennoch nicht verboten waren. In der Gesellschaft hatte der Glaube an jinn reale Auswirkungen auf das soziale und sexuelle Leben der Menschen, und brachte eine starke Faszination der Menschen mit sich. Die Literaturwissenschaftlerin Amira El-Zein hält fest, dass die Liebe zwischen Menschen und jinn eine Sonderstellung hatte:

This love is depicted as stronger than the love between two humans; it may be because of the strangeness of the spiritual partner and the curiosity otherness triggers in the human.46

Es wurde herausgearbeitet, inwiefern sich Menschen und jinn auf sexueller oder romantischer Ebene begegnen können, unter welchen Bedingungen und aus welchen Motiven heraus Verbindungen zwischen den Gattungen entstehen können und was die gesellschaftlichen Vorstellungen in Bezug auf Moral und Sexualität verraten können. Hier wurde besonderer Fokus auf die Aspekte möglicher Misogynie, Heteronormativität, Binarismus der Geschlechter und Fürsorge sowie Verantwortung gelegt.

Es benötigt weitere Untersuchungen auf der Grundlage von breiterer Literatur, u.a. Dichtungen oder Folklore, um weitere offen gebliebene Fragen zu Geschlechterverhältnissen und den Beziehungen der Menschen aus der Vormoderne oder aber auch heute noch mit den jinn zu klären, näher zu beleuchten und kultursensibel und angemessen in einen Kontext zu setzen.


Mein herzlicher Dank gilt Vicky Ziegler für ihre fachliche Unterstützung, ihre Genauigkeit und ihre konstruktiven Anregungen bei der Erstellung dieses Beitrags.


  1. Arab. für Dämonen, sig. m. jinnī; sig. f. jinniyya; pl. f. jinniyyāt; im Deutschen auch “Dschinn”. ↩︎
  2. Darunter wird in diesem Beitrag die Region Nordafrikas sowie Vorderasiens bis nach Pakistan verstanden. ↩︎
  3. Vgl. Pierre Lory, “Sexual Intercourse Between Humans and Demons in the Islamic Tradition”, in Hidden Intercourse, hrsg. von Wouter J. Hanegraaff und Jeffrey Kripal, Bd. 7 (Leiden: Brill, 2008), 50, https://doi.org/10.1163/ej.9789004168732.i-544.24. ↩︎
  4. Vgl. Ebd.; Guillaume Dye, “Demons, Jinns and Figures of Evil in the Qurʾān”, in Islam on the Margins, hrsg. von Robert Haug und Steven Judd, Bd. 204 (Leiden: Brill, 2023), 137, https://doi.org/10.1163/9789004527836_006. ↩︎
  5. Vgl. Lory, “Sexual Intercourse”, 58. ↩︎
  6. wa ḫalaqa l-jānna min mārijin min nārin”, Q55:15. ↩︎
  7. Vgl. Tobias Nünlist, „Dämonenglaube im Islam”, in Studies in the History and Culture of the Middle East, hrsg. von Stefan Heidemann, Gottfried Hagen, Andreas Kaplony und Rudi Matthee, Bd. 28 (Berlin/Boston: De Gruyter, 2015), 25, https://doi.org/10.1515/9783110331684. ↩︎
  8. Vgl. Badr al-Dīn al-Shiblī, Akām al-marjān fī aḥkām al-jānn, Bibliotheca Islamica, Bd. 57 (Berlin: Klaus Schwarz, 2017), 37, http://dx.doi.org/10.25673/108559. ↩︎
  9. Vgl. Q 55:26-28. ↩︎
  10. Vgl. Lory, “Sexual Intercourse”, 57. ↩︎
  11. Vgl. Ebd., 51-52. ↩︎
  12. “Kitab al-Bulhan or Book of Wonders (late 14th C.)”, The Public Domain Review, 2011, https://publicdomainreview.org/collection/kitab-al-bulhan-or-book-of-wonders-late-14thc/ ↩︎
  13. Vgl. Ebd., 52. ↩︎
  14. Eine philosophische, religiöse und politische Gruppe von muslimischen Gelehrten im 10. Jh. aus dem heutigen Irak. Sie besaßen in Gelehrtenkreisen der Vormoderne einen großen Einfluss, siehe z.B. Y. Marquet, “Ikhwān al-Ṣafāʾ”, in Encyclopaedia of Islam, Second Edition, hrsg. von P. Bearman, et al., https://doi.org/10.1163/1573-3912_islam_COM_0356. ↩︎
  15. Dies bedeutet, dass die jinn bereits viele Jahre vor der Erschaffung der Menschen auf der Erde gelebt hätten und sich somit den Raum ab einem gewissen Zeitpunkt mit ihnen teilen mussten, was zu Konflikten führte. ↩︎
  16. Nünlist, “Dämonenglaube im Islam”, 43. ↩︎
  17. Vgl. Ebd., 510. ↩︎
  18. Vgl. Lory, “Sexual Intercourse”, 57. ↩︎
  19. Vgl. Ebd., 54; Edward Badeen und Birgit Krawietz, “Eheschließung mit Dschinnen nach Badr Al-Dīn al-Šiblī”, Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 92 (2002): 45, https://www.jstor.org/stable/23863037. ↩︎
  20. Vgl. Nünlist, “Dämonenglaube im Islam”, 39, 268, 272, 512. ↩︎
  21. Vgl. Ebd., 268, 272. ↩︎
  22. Vgl. Sylvaine Camelin, “Croyance aux djinns”, 1995 zit. n. Lory, “Sexual Intercourse”, 58. ↩︎
  23. Vgl. Badeen und Krawietz, “Eheschließung mit Dschinnen”, 47. ↩︎
  24. Vgl. Amira El-Zein, Islam, Arabs, and the Intelligent World of the Jinn (New York: Syracuse, 2009), 118. ↩︎
  25. Vgl. Shaykh Luqman Jimoh, “The Yoruba Concept of Spirit Husband and the Islamic Belief in Intermarriage between Jinn and Man” (International Conference on Humanities, Literature and Management, January 9-10, 2015), 95, https://icehm.org/upload/3909ED0115006.pdf. ↩︎
  26. Vgl. Nünlist, “Dämonenglaube im Islam”, 514. ↩︎
  27. Vgl. Badeen und Krawietz, “Eheschließung mit Dschinnen”, 37; siehe dazu z.B. auch al-Shiblī, Akām al-marjān, 36:
    „ولا شَكَّ أَّنهُمْ يأكُلُونَ وَيشْرَبونَ مِمَّا نَأْكُلُ مِنْهُ وَنشْرَبُ، وَيحْصُلُ لأجسَامِهِمْ بِذِٰلكَ نُمُوٌّ وَبقَاءٌ، عَلَى حَسَبِ الَمأْكُول: وَفِي مَأْكُوِلهِمُ الحَارُّ وَالبَارِدُ، الرَّطْبَيْنِ وَاليَاِبسَيْنِ(٢)، فَهٰذَا مَعَ التَّوَاُلدِ، قَدْ نَقَلَهُمْ عَنِ العُنْصُرِ النَّارِيِّ، وَصَارَ فِيهِمُ الطَّبَاِئعُ الأَرْبع.“
    Übers.: „Es gibt keinen Zweifel daran, dass sie davon essen und trinken, wovon wir essen und trinken. Hierdurch wachsen ihre Körper und bestehen fort – gemäß der Nahrung. In ihrer Nahrung ist Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit; dies und die Fortpflanzung bringt sie vom feurigen Element [etwas] ab, sodass in ihnen die vier Naturen (Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit) sind.“ ↩︎
  28. Lory, “Sexual Intercourse”, 54. ↩︎
  29. Vgl. Jimoh, “The Yoruba Concept of Spirit Husband”, 97. ↩︎
  30. Vgl. Lory, “Sexual Intercourse”, 54. ↩︎
  31. Die Abgrenzung zwischen Teufel und jinn ist nicht besonders trennscharf, in manchen Fällen werden beide Begriffe synonym verwendet, vgl. Nünlist, Dämonenglaube im Islam, 56; ʿAmr Ibn-Baḥr Al-Jāḥiẓ, Kitāb al-Ḥayawān al-Kitāb al-auwwal al-Juzʾ 1, hrsg. von ʿAbd-al-Salām Muḥammad Hārūn (Kairo: Maṭh. Muṣṭafā al-Bābī al-Ḥalabī wa-l-aulāduh, 1965), I.291.10; Badr al-Dīn al-Shiblī, Akām al-marjān, 17. ↩︎
  32. Vgl. Lory, “Sexual Intercourse”, 60. ↩︎
  33. Vgl. Ebd., 54. ↩︎
  34. Vgl. Ebd., 56. ↩︎
  35. Vgl. Ebd. ↩︎
  36. Corpus Coranicum, “Sure 30 Vers 21”, in Druckausgabe des Korans (al-Qurʾān al-karīm), digital edition by Michael Marx, Tobias J. Jocham, et al. (Cairo 1924), https://corpuscoranicum.de/de/verse-navigator/sura/30/verse/21/print. ↩︎
  37. Vgl. Nünlist, “Dämonenglaube im Islam“, 511. ↩︎
  38. Vgl. Jimoh, “The Yoruba Concept of Spirit Husband”, 98. ↩︎
  39. Vgl. z.B. Lory, “Sexual Intercourse”, 60. ↩︎
  40. Siehe zur Täter-Opfer-Umkehr z.B. Veronica E. Johnson, et al., “’It’s Not in Your Head’: Gaslighting, ´Splaining, Victim Blaming, and other Harmful Reactions to Microaggressions”, Perspectives on Psychological Science 16, no. 5 (2021): 1027-1029, https://doi.org/10.1177/17456916211011963. ↩︎
  41. Siehe z.B. in: Julie Lowe, “Breaking the Silence: An Islamic Legal Approach to Facilitating Reporting and Testimony by Muslim Victims and Witnesses of Sexual Crimes” Religions 13, no. 11 (2022): 1017, https://doi.org/10.3390/rel13111017. Die traditionelle islamische Rechtsauslegung (fiqh und fatwā) besagt, dass der Beweis einer Vergewaltigung eine Mindestanzahl an Zeug:innen benötigt, die sich nicht widersprechen dürfen, sowie darüber hinaus die Tatsache, dass eine als fälschlich angesehene Beschuldigung von zinā als Straftat gilt. Dies hatte vermutlich erhebliche Auswirkungen auf die Anzeige einer Vergewaltigung, zumal eben diese meist im Geheimen und nicht vor möglichen Zeug:innen stattfindet. Dies schützt Täter und schadet insbesondere solchen Opfern, denen nicht geglaubt wird, und die dadurch selbst zu Täter:innen bzw. Beschuldigten gemacht werden. ↩︎
  42. Badeen und Krawietz, “Eheschließung mit Dschinnen”, 50f. ↩︎
  43. Ebd., 48. ↩︎
  44. Nünlist, “Dämonenglaube im Islam”, 513. ↩︎
  45. “Kitab al-Bulhan or Book of Wonders (late 14th C.)”, The Public Domain Review, 2011, https://publicdomainreview.org/collection/kitab-al-bulhan-or-book-of-wonders-late-14thc/ ↩︎
  46. El-Zein, Islam, Arabs, and the Intelligent World of the Jinn, 120. ↩︎

Annika Jung

Annika Jung studiert Kultur, Individuum und Gesellschaft, sowie Arabistik und Islamwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Dort ist sie als studentische Mitarbeiterin im ERC-Forschungsprojekt „LOOP – Late Ottoman Palestinians“ beschäftigt. Ihre Interessensschwerpunkte liegen auf Frauen- und Geschlechterforschung, feministische Praxen, Diversitätsforschung und Postkoloniale Studien. Darüber hinaus interessiert sie sich für den Raum Südasien, mit Fokus auf Lebensrealitäten von Frauen in Kashmir und Indien.

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Annika Jung (1. Februar 2025). Jinn-Glaube und damit verknüpfte Geschlechterrollen und -bilder im vormodernen Islam. Krit:Arab. Abgerufen am 11. Februar 2025 von https://kritarab.hypotheses.org/1324


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